Mit Vollgas in den Flow (und gegen die Wand)

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Mit Vollgas in den Flow (und gegen die Wand)

24. Oktober 2025 Berateralltag 0

Bei allem lassen wir der Kausalität freien Lauf: Etwas geschieht, das Ergebnis wird bewertet. Ursache und Wirkung: Wir schreiben eine Klassenarbeit, das Ergebnis ergibt eine 1 – oder, falls es Erdkunde ist, eine 5 (kein Kommentar). Wir gucken lang genug in die Sonne und sind danach blind: läuft.
Kausalität ist super. So sind wir strukturiert, der Zeitstrahl hat einen klaren Richtungsvektor.

Ich hätte da nur mal eine kleine Frage

Kann mir nur mal jemand sagen, auf welcher wissenschaftlichen Sitzung wir uns davon verabschiedet und uns entschieden haben, Kausalität bei der Definition von Stress zu vergessen? Ich würde das nämlich gerne verstehen, denn so, wie wir damit umgehen, ist das – pardon – ziemlich dämlich. Aber eines nach dem anderen….

Ein paar Beispiele gefälligst?

Ein Mensch liebt den Nervenkitzel: Er fühlt sich stark, er ist fokussiert, er ist… „im Flow“ – wir würden sagen: „positiv, alles gut“. Er gibt sich den ultimativen Kick – sein Puls geht in die Höhe, ein Äderchen im Hirn platzt, er ist tot. Aber… er war zumindest im positiven Stress. Wir würden sagen: Er hatte zumindest ein Lächeln auf den Lippen, das kann nicht schlecht sein. Wir halten fest: Eustress ist gut!

Ein anderer Mensch hat ein massives Problem mit seinem Arbeitsstress und dem steten Druck. Er hat Angst, vor anderen zu reden und kommt aufgrund seines Gewichts arg ins Schwitzen. Er hat negativen Stress, auch Distress genannt. Gleichzeitig trainiert er aber durch regelmäßige Konfrontation seine Auftritte und, wichtiger noch, er trainiert nebenbei indem er bei Meetings ohne Redeanteil auf dem Band läuft. Trotz negativem Stress entdeckt er hier ein Problem, arbeitet daran: Der Distress hat ihn zu etwas Positivem bewegt. Aber doof: Er hatte negativen Stress, das kann nicht gut sein. Von vornherein nicht.

Das Ergebnis und die Intensität zählen

Stress ist Stress und man täte gut daran, das Ergebnis zu bewerten. Der Begründer der Begriffe, Hans Selye, plädierte selbst für eine Betrachtung über Zeit und Auswirkung. Genau das ist es, worauf es ankommt und nur das. Woanders ist das auch logisch:

Wenn ich mit 200 durch die Innenstadt fahre und dabei drei Personen umfahre (nicht drumherum, sondern drüber), habe ich sicherlich Zeit eingespart, meine Fahrskills in den Kurven verbessert – und lande trotzdem hinter Gittern. Auch Sport, so gut es einem tut, hat mir nicht geholfen, wenn ich am Ende an einer Wand zerschelle, weil ich mich vor lauter Euphorie selbst überschätzt habe. Und ob es so unfassbar gesund ist, im Flow 80 Stunden die Woche zu arbeiten, weil man gerade Bock darauf hat: geschenkt. Manche Menschen haben auch Lust, sich mit Drogen zuzukleistern, um sich während der Arbeit gut zu fühlen und dem Druck standzuhalten – ob das aber im Ergebnis und auch langfristig gesund ist, sei mal dahingestellt.

Sicher ist, dass die Gefühle und teils auch die positiven Auswirkungen im Moment des Erlebens durchaus positiv oder negativ sein können – dagegen sage ich nichts. Um ehrlich zu sein, ich selbst strebe im Zweifel dem positiven Stress entgegen. Aber wichtig ist das Augenmaß, die Logik, die Menge: Gegen den Durst zu trinken mag gut sein, wer aber vor lauter Trinkfreude am Ende an einer Alkoholvergiftung stirbt, hat sich damit nichts Guten getan, auch wenn das Glücksgefühl durchaus als „gut“ empfunden werden kann.

Wichtig wäre hier, das Ergebnis zu bewerten, um zu wissen, ob die Menge, der Zeitpunkt, die Art, die Vorgehensweise positiv oder negativ waren, und nicht generell davon ausgehen, dass just zum Zeitpunkt des Empfindens die Schublade zu und der Deckel draufgesetzt werden kann: Solche Dinge leben weiter und sie ticken nach. Das wären dann die nachgelagerten Konsequenzen.

Aber das ist nur die eine Seite. Die andere dürfte ebenfalls interessant sein: Schuld.

Die Schuldverschiebung

Wer den Begriff des positiven oder negativen Stresses an den Anfang setzt, verlagert die Ursache für das Problem. Es muss an mir oder am Umfeld liegen: fertig. Habe ich Angst und Panik, wenn ich vor der Menge einen Vortrag halten soll? Sicher, mein Problem ist es trotzdem, ich bin Schuld, ich muss die Situation wechseln. Wenn ich merke, dass ich nur Remote aufblühe, während es Kunden gibt, die auch den persönlichen Kontakt schätzen würden, kann ich sagen: deren Problem, ich habe gerade einen „Flow“. Ich bin derjenige, der die Situation zu jedem Zeitpunkt kontrolliert und wenn ich mich nur anders anstelle, wird aus „schlecht“ direkt „gut“.
Ende. Oder?

Wohl kaum: Egal wie ich es anstelle, ob schlecht oder gut, am Ende trage ich die Konsequenzen, wenn ich es übertreibe. Etwas Schlechtes durch einen Perspektivwechsel zu drehen ist so, als würde man sich Zucker in den Alkohol kippen, damit man das Zeug besser in Mengen runterkriegt. Nur: Helfen tut es mir für den Moment, langfristig wird aus „Genuss“ ein ausgewachsenes (Sucht)Problem: Die Jagd nach dem Glück. Aus Arbeitgebersicht natürlich genial: Die Mitarbeiter fühlen sich wohl und solange sie sich wohlfühlen, hab ich weniger Stress (!) mit meiner Fürsorgepflicht – ihnen geht es ja gut, oder? Sie sind im goldenen Eustress-Käfig gefangen.

Alles eine Frage der Dauer und Intensität

Obacht: Ich sage nicht, dass man sich gar keinem Stress aussetzen soll. Ich sage auch nicht, dass man sich die ganze Zeit stressen sollte. Ich sage, dass Stress Teil unseres Lebens ist und wir uns von diesem Gefühl nicht negativ leiten lassen und daraus lernen sollten: Dauerhaft Stress, positiv wie negativ, ist aus meiner Sicht nicht gut. Von einem Burnout kann ich  mir keine gute Laune kaufen. Und von einter unter Muskelbergen und perfekter Kondition vergrabenen Mobbing-Erfahrung könnte ich mir ebenfalls kein positives Leben leisten. Am Ende kann ich vor meinen Problemen nicht weglaufen, der Schatten der Konsequenzen reitet stetig mit.

Was ich jedoch machen kann ist, die Mechanismen zu erkennen, daraus zu lernen, zu wachsen, die Stressintervalle niedrig zu halten, die Lernphasen hoch. Die interessantesten und zugleich smartesten Menschen, die ich kenne, sind schlicht und ergreifend entspannt. Sie sind zuweilen gestresst, aber die meiste Zeit, die ich sie erlebe, im Hier und Jetzt – und nicht dauernd am Limit. Als Vorgesetzter will ich Menschen, die genau wie Sterne im richtigen Maß leuchten – nicht zu dunkel, denn dann stimmt was nicht, und auch nicht zu hell, denn dann ist auf Dauer auch nicht gesund. Wer lang und ausgiebig für die Sache brennt, verbrennt nicht, kühlt auch nicht ab und kann „Ja“ und „Nein“ sagen. Für alles Weitere ist der Vorgesetzte da, der das erkennt, nicht die Schuldfrage verschiebt und hilft, wenn jemand sich nicht selbst helfen kann.
Solche Menschen habe ich erlebt, die gibt es.

Und das ist auch gut so.

Disclaimer: Dieser Beitrag entstand 100% ohne Stress und mit 50% recycelten Gefühlen. Mach mit und schone die Umwelt!

 

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